AW: Richtig Dehnen, aber wie??
Hallo zusammen, ich bin neu in diesem Forum und habe mich speziell wegen dieser Unterhaltung betreffend Dehnen hier eingeschrieben.
Ich habe mich in den letzten Monaten sehr intensiv mit dem Thema sinnvolles Beweglichkeitstraining befasst und bin zur Überzeugung gelangt, dass ein sinnvolles Beweglichkeitstraining aus Bewegung bzw. Krafttraining über die gesamte ROM bestehen sollte und nicht aus Dehnübungen. Der primäre strukturelle Mechanismus welches es anzupassen gilt ist meiner Meinung nach die Anzahl der Sarkomere in Serie in einer Muskelfibrille, die passiven Strukturen (Bindegewebe) wird sich sekundär anpassen.
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Meine Theorie beschreibt also in etwa das Gegenteil von dem Zitat weiter oben in diesem Forum, aus dem Artikel von Albrecht Meyer und Zahner 1999. Ich bin sehr kritisch diesen Autoren gegenüber und führe auch mehrere Fehler aus Arbeiten dieser Autoren in meinen Arbeiten auf. Den wohl gravierendsten Fehler möchte ich aber als Beweis hier aufführen:
„Die Länge der Muskelfaser scheint für den Umfang der maximalen Beweglichkeit nicht bestimmend zu sein. Falls die Muskelfaser tatsächlich zu kurz sein sollte, aus welchen Gründen auch immer, passiert eine Längenanpassung einfach und schnell. Solche Anpassungen geschehen bereits in der exzentrischen Kontraktion. Ob diese Vermehrung der Sarkomere gleichzeitig auch mehr Bewegungsradius bedeutet, ist nicht untersucht. Die Annahme, dass die Muskelfasern sich durch Reize am Bewegungsende (Dehnungen) ebenfalls anpassen, ist nahe liegend“ (Albrecht & Meyer, 2005, S.14-15).
Ich kann nicht nachvollziehen wie sich Sarkomere in einer einzigen exzentrischen Kontraktion vermehren sollen.
Meiner Meinung nach fundamental ist es, dass wir den Begriff ‚Beweglichkeit‘ in die
aktive und die passive Beweglichkeit unterteilen, denn ein sinnvolles Beweglichkeitstraining sollte sich auf die Verbesserung der aktiven Beweglichkeit richten. Mit Stretching hingegen kann man sich vor allem die passive Beweglichkeit antrainieren, was euch praktisch jeder Yogi demonstrieren kann.
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Des Weiteren ist es für mich sehr wichtig, dass wir das gleiche unter Dehnen verstehen. Meine Definition von Dehnen sieht wie folgt aus:
‚Dehnen bezeichnet eine Tätigkeit, bei der versucht wird, menschliches Gewebe auseinander zu ziehen, über ein für die jeweilige Person physiologisches Mass hinaus, welches durch Schmerzen angezeigt wird. Dies in der Hoffnung, das Gewebe zu verlängern, um dadurch die anguläre Beweglichkeit in einem Gelenk zu vergrössern.‘
Einige werden diese Definition nun vielleicht etwas streng empfinden und ich bin gerne bereit über diese Definition zu diskutieren, aber ich habe bis jetzt noch keine treffendere gefunden. In meinen Augen macht es nur Sinn von Dehnen oder Stretching zu sprechen, wenn ein Dehnschmerz erzeugt wird. So scheint es auch Freiwald zu sehen:
„Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen macht es Sinn, in Verbindung mit Dehnen von Schmerzen zu sprechen, da die Gewebe einerseits durch
hohe mechanische Spannung zur Anpassung gezwungen werden sollen, andererseits durch diese hohen mechanischen Spannungen auch in Gefahr sind, was typischerweise das
Schmerzsystem aktiviert“ (Freiwald, 2009, S.116).
Oder nach Albrecht et al.:
„Schonung ergibt keine Wirkung!
Eine Dehnung ist nur dann sinnvoll, wenn ein Reiz auf das Nervensystem und die bindegewebigen Strukturen ausgeübt wird. Das Empfinden eines intensiven Dehnungsgefühls bis hin zu einem angenehmen Dehnungsschmerz ist wichtig, um eine Wirkung zu provozieren.
Sportler mit einer antrainierten Beweglichkeit haben ihr Nervensystem an diesen Dehnungsreiz gewöhnt und empfinden Dehnungen als angenehm. Denjenigen, welche selten dehnen, ist ein Dehnungsschmerz oft zu intensiv und unangenehm, weil ihr Nervensystem viel empfindlicher auf den Dehnungsreiz reagiert“ (Albrecht et al., 2001, S.59).
Ich bin mir aber durchaus bewusst und habe absolut nichts dagegen, dass sich bei artgerechten Bewegungsmustern Strukturen unseres Körpers dehnen, nur sollte man in diesem Zusammenhang von Bewegung und nicht von Dehnen sprechen.
Beinahe noch wichtiger, als eine sinnvolle Definition von Dehnen zu finden ist für mich die Philosophie, welche jeder Dehnübung zu Grunde liegt und meiner Meinung nach nicht sinnvoll ist.
Ich denke der Ausspruch
‚Form folgt Funktion‘ ist äusserst zutreffend wenn wir ihn auf das Themengebiet der Trainingswissenschaften anwenden. Wir sollten Funktionen trainieren im Wissen, dass sich unsere Form (unser Körper) anpassen wird. Im Krafttraining und Ausdauertraining ist dieser Grundsatz meiner Meinung nach bereits sehr weit bekannt. Im Beweglichkeitstraining bzw. wenn dieses durch Dehnübungen gemacht wird, dann wird dieser Grundsatz verdreht. Dehnübungen verfolgen den Grundsatz ‚
Funktion folgt Form‘ und ich kann mir kaum vorstellen, dass dies sinnvoll sein soll.
Das primäre Ziel von Dehnübungen ist es, „(…) die
anguläre Beweglichkeit zu erweitern (…)“ (Freiwald, 2009, S.30).
Man möchte beweglicher werden:
„Bei der Verwendung des Begriffes
Beweglichkeit bezieht man sich auf die Fähigkeit, die mögliche Schwingungsweite der Körpergelenke im Laufe von Bewegungen der Alltags- und Sportmotorik auszunutzen“ (Klee & Wiemann, 2012, S.
.
Die Funktion die man erreichen möchte sind dementsprechend
Optimale Bewegungsmuster der Alltags- und Sportmotorik.
Mein Vorgehen ist es deshalb diese Bewegungsmuster (Funktionen) aktive zu trainieren im Wissen, dass sich meine Form anpassen wird. Als ich aber früher gedehnt habe, hatte ich die Überzeugung, dass ich bestimmte Formen meines Körpers auseinanderziehen sollte, damit ich anschliessend diese Bewegungsmuster durchführen kann. Das macht für mich heute keinen Sinn mehr.
So ich beende nun meinen etwas längeren Kommentar hier und hoffe, dass er dir bzw. euch etwas nutzt.
Falls du eine etwas ausführlichere Abhandlung von mir zu diesem Thema lesen möchtest, dann findest du unter folgendem Link einen 12 seitigen Artikel (Artikel 4):
Artikel | Swiss Functional Training oder unter folgendem Link einen 20min Videobeitrag:
https://www.youtube.com/watch?v=STeVq5qhIbc
Ich hoffe ich verstosse mit dem Hinweis auf meine Onlinebeiträge nicht gegen Forumsregeln und freue mich auf eine spannende Diskussion in der Hoffnung uns gegenseitig weiter zu bringen.
Tom