AW: Zen
Parabel von Mushin
In einer Stadt namens Hoffnung lebte einmal ein junger Mann, Johannes.
Er betrieb fleißig Dharma-Studien, und so bekam er einen budhistischen Namen.
Johannes wurde in Mushin umbenannt. Johannes lebte nicht anders als alle anderen. Er ging zur Arbeit, und er hatte eine nette Frau.
Doch obwohl er sich so gründlich mit dem Dharma beschäftigte, war er ein angeberischer, rauer Geselle, der bei seiner Arbeitsstelle so herum wütete,
dass sein Vorgesetzter eines Tages genug hatte und ihn hinauswarf.
Johannes musste gehen und hatte keine Arbeit mehr. Als er nach Hause kam, fand er einen Brief seiner Frau.
Auch sie hatte genug von ihm und hatte ihn deshalb verlassen. Nun hatte Johannes noch seine Wohnung und sich selbst und sonst nichts mehr.
Doch Johannes-Mushin war einer, der nicht so schnell aufgab.
Er schwor, dass er nun, auch ohne Arbeit und ohne Frau, das haben würde, was das Wichtigste im Leben war – Erleuchtung.
So lief er rasch zum nächsten Büchergeschäft. Johannes wühlte in dem Berg von neuen Büchern über den Weg zur Erleuchtung. Eines davon schien ihm besonders interessant.
Es hieß: WIE ERWISCHE ICH DEN ZUG ZUR ERLEUCHTUNG.
Er kaufte das Buch und las ganz vertieft darin. Als er fertig gelesen hatte, ging er nach Hause, gab seine Wohnung auf, füllte eine Tasche mit seinen Habseligkeiten und machte sich auf den Weg zum Bahnhof am anderen Ende der Stadt.
Durch das Buch hatte er erfahren: Wenn man alle Anweisungen genau befolgt, kann man in den Zug der Erleuchtung steigen, wenn er kommt. Er fand das großartig.
Johannes ging also zum Bahnhof, der in einer recht abgelegenen Gegend lag, las das Buch noch einmal und versuchte, sich alle Anweisungen genau einzuprägen, dann setzte er sich nieder und wartete. Zwei, drei, vier Tage wartete er auf den Zug der Erleuchtung, denn in dem Buch hatte es geheißen,
dass er ganz gewiss kommen würde. Und er hatte großes Vertrauen in dieses Buch.
Tatsächlich, am vierten Tag hörte er in der Ferne ein Geräusch, das immer lauter wurde.
Er wusste, das musste der Zug sein. Er packte seine Sachen zusammen und war sehr aufgeregt.
Er konnte es noch gar nicht glauben…und da…rauschte der Zug vorbei. Er sah ihn kaum, so schnell war er vorüber gefahren.
Was war nur geschehen? Den hatte er wirklich nicht erwischen können!
Johannes war verwundert, aber nicht entmutigt. Er holte sein Buch wieder hervor und las einige Übungen nach.
Er übte und übte, während er auf dem Perron saß, und legte all seine Kraft hinein.
Als noch einmal drei oder vier Tage vergangen waren, hörte er wieder dieses laute Geräusch in der Ferne, und dieses Mal war er sicher,
dass er den Zug erwischen würde. Und da war er auch schon…
vorbei gerauscht. Was tun? Es gab also wirklich einen Zug, der sogar vorbeikam.
Aber er konnte ihn nicht erwischen. Also vertiefte er sich wieder in sein Buch und übte und übte, doch wieder geschah das Gleiche,
und immer und immer wieder.
Im Laufe der Zeit waren noch andere Leute in den Buchladen gegangen und hatten sich das Buch gekauft.
Johannes bekam Gesellschaft. Erst zählte er vier oder fünf, dann dreißig oder vierzig Leute, die auf den Zug warteten. Die Aufregung war groß!
Da war die Antwort, da kam sie. Sie alle hörten das Rauschen des vorbeirasenden Zugs, und obwohl keiner von ihnen ihn je erwischte,
waren alle davon überzeugt, dass es zumindest einem von ihnen eines Tages gelingen würde, ihn zu besteigen.
Die kleine Schar wuchs, und freudige Erregung ergriff alle.
Im Laufe der Zeit bemerkte Mushin, dass manche der Leute ihre Kinder mitgebracht hatten.
Sie waren so sehr damit beschäftigt, nach dem Zug Ausschau zu halten,
dass die Kinder, die ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen versuchten, hören mussten: „Lasst uns in Ruhe. Geht spielen.“
Die Kleinen wurden so vernachlässigt, dass Mushin, der ja im Grunde gar kein so schlechter Kerl war,
sich sagte: „Nun, eigentlich will ich ja auf den Zug warten, aber einer muss sich schließlich um die Kinder kümmern!“
Also begann er, sich hier und da mit ihnen zu beschäftigen. Er sah in seine Tasche, holte allerlei Süßigkeiten heraus und gab sie den Kindern.
Manche hatten großen Hunger. Nur die Eltern, die auf den Zug warteten, schienen keinen Hunger zu haben.
Die Kinder kamen mit aufgeschlagenen Knien, und Johannes fand ein paar Verbände in seiner Tasche und versorgte sie.
Er las ihnen Geschichten aus ihren Kinderbüchern vor.
Und obwohl er immer noch gelegentlich nach dem Zug Ausschau hielt, kümmerte er sich nun vor allem um die Kinder.
Es wurden immer mehr. Nach einigen Monaten kamen auch Jugendliche, und sie strotzten oft vor Energie.
So stellte Mushin eine Fußballergruppe zusammen und spielte mit ihnen hinter dem Bahnhof.
Auch legte er einen Garten an, um sie zu beschäftigen. Er brachte ein paar der Zuverlässigsten dazu, ihm zu helfen.
Ehe er sich’s versah, war er mit diesen Unternehmungen voll beschäftigt.
Er hatte immer weniger Zeit für den Zug. Das ärgerte ihn.
Das Entscheidende geschah dort, wo die Eltern auf den Zug warteten, aber er musste sich um deren Kinder kümmern.
Er kochte vor Wut. Aber er wusste ja, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich um die Kinder zu kümmern.
So tat er das weiterhin.
Nach einiger Zeit war die Schar der Wartenden auf Hunderte, ja Tausende angewachsen, denn alle Kinder und Verwandte waren mitgekommen.
Mushin war so überwältigt von den Nöten der Leute, dass er den Bahnhof erweitern musste. Er schaffte Schlafgelegenheiten,
und er errichtete eine Post und eine Schule.
So beschäftigt er auch war, sein Zorn ließ nicht nach. Schließlich interessierte ihn nichts anderes als die Erleuchtung.
Während die anderen nach dem Zug Ausschau hielten, was tat er da? Aber er tat es weiterhin.
Und dann erinnerte er sich eines Tages daran, dass er zwar alle seine Bücher weggeworfen
und doch aus irgendwelchen Gründen ein schmales Bändchen aufgehoben hatte. Er holte es aus seiner Tasche.
Das Buch hieß: DER ZA-ZEN-ÜBUNGSWEG. Also gab es für Johannes wieder neue Anweisungen.
Sie schienen ihm gar nicht so schlecht. Er studierte das Büchlein und übte.
Am Morgen setzte er sich, noch bevor die anderen aufstanden, auf ein Kissen und meditierte eine Weile.
Mit der Zeit kam ihm sein gehetztes, anstrengendes Tagespensum, auf das er sich wider Willen eingelassen hatte, gar nicht mehr so anstrengend vor.
Er dachte, dass zwischen seinem ZA-ZEN und der inneren Ruhe, die er zu fühlen begann, ein Zusammenhang bestehen müsse.
Einige Andere waren allmählich ein wenig entmutigt, dass sie den Zug nie erwischen konnten,
und begannen, mit ihm zu sitzen. Sie übten jeden Morgen ZA-ZEN, während die Schar der Wartenden immer noch zunahm.
Auch an der nächsten Station hatte sich schon eine Kolonie von Wartenden versammelt.
Da dort dieselben Probleme auftauchten wie hier bei ihnen, gingen sie manchmal hin, um zu helfen.
Schon entstand eine neue Gruppe, eine Station weiter…die Arbeit schien endlos.
Sie taten wirklich, was sie konnten. Von morgens bis abends fütterten sie die Kinder, bauten, betreuten das Postamt,
richteten ein kleines Krankenhaus ein – sie taten alles, was für eine Menschengemeinschaft nun einmal notwendig ist.
Allmählich schauten sie gar nicht mehr nach dem Zug.
Er fuhr einfach vorbei. Sie hörten sein Rauschen. Immer noch erfüllte sie ein wenig Eifersucht und Verbitterung.
Aber sie mussten zugeben, dass sich etwas geändert hatte; der Zug war manchmal da, aber zugleich war er auch nicht da.
Der Wendepunkt kam für MUSHIN, als er etwas ausprobierte, was in seinen Büchern als „
SESSHIN“ bezeichnet wurde. Er sammelte seine kleine Gruppe um sich.
Sie fanden eine ruhige Stelle in der Ecke des Bahnhofs und übten vier oder fünf Stunden am Tag ausdauernd ZA-ZEN.
Gelegentlich hörten sie, wie der Zug herannahte, aber sie beachteten ihn nicht und meditierten weiter.
Auch den Menschen an den anderen Bahnhöfen brachten sie diese schwierige Übungsmethode bei.
Mushin war inzwischen in den Fünfzigern.
Man sah ihm an, welche Anstrengungen er hinter sich hatte. Er war gebeugt und müde.
Doch jetzt machte er sich keine Sorgen mehr um die Dinge, um die er sich früher Sorgen gemacht hatte.
Er hatte die großen philosophischen Fragen vergessen, die ihn früher immer beschäftigt hatten: „Existiere ich? Ist das Leben wirklich? Ist das Leben ein Traum?“
Er war so damit beschäftigt ZA-ZEN zu üben und zu arbeiten, dass all das verblasste, außer den Dingen, die tagtäglich zu tun waren.
Auch seine Verbitterung verblasste. Die großen Fragen verblassten. Schließlich war für Mushin nichts mehr da außer dem, was zu tun war.
Er hatte aber nicht mehr das Gefühl, es müsse eben getan werden, sondern er tat es einfach.
Inzwischen war die Schar der Menschen auf den Bahnhöfen ungeheuer angewachsen; manche arbeiteten, andere erzogen ihre Kinder,
und wieder andere warteten auf den Zug. Immer mehr Neue kamen hinzu.
Mushin begann allmählich, auch die Menschen, die auf den Zug warteten, zu lieben.
Er diente ihnen, und er half ihnen, Ausschau zu halten. So gingen viele Jahre ins Land. Mushin wurde älter und immer müder.
Seine Fragen lösten sich immer mehr auf. Und dann gab es keine mehr.
Es gab nur noch Mushin und sein Leben, und er tat in jedem Augenblick, was getan werden musste.
Eines Abends dachte Mushin: „Ich werde die ganze Nacht sitzen.
Ich weiß nicht, warum ich das will, aber ich werde es einfach tun.“ Für ihn bedeutete das Sitzen nicht mehr, Ausschau halten nach etwas, besser oder heilig werden wollen.
All diese Ideen hatten sich schon vor Jahren verflüchtigt. Für Mushin gab es nichts als Sitzen: Er hörte die feinen Geräusche der Nacht.
Er spürte die kühle Nachtluft. Er freute sich über die Veränderungen in seinem Körper.
Mushin saß die ganze Nacht, und bei Tagesanbruch hörte er das Heulen des Zuges.
Dann hielt der Zug ganz leise, direkt vor ihm. Er erkannte, dass er von Anfang an in diesem Zug gesessen hatte.
Ja, er war der Zug selbst. Es gab also gar keine Notwendigkeit, den Zug zu erwischen.
Nichts zu erkennen. Kein Ziel, nach dem man streben konnte. Es gab einfach die Einheit und die Ganzheit des Lebens selbst.
All die alten Fragen, die gar keine Fragen waren, beantworteten sich von selbst.
Und zuletzt löste sich auch der Zug auf. Da war nur noch ein alter Mann, der die ganze Nacht bis zum Morgen dasaß.
Mushin streckte sich und stand von seinem Kissen auf. Er machte den Morgenkaffee, um ihn mit den anderen zu trinken, die zur Arbeit kamen.
Und zuletzt sehen wir ihn in der Schreinerei mit einigen Halbwüchsigen, wie er eine Schaukel für den Spielplatz baut.
Das ist die Geschichte von Mushin. Was hatte Mushin herausgefunden? Ich überlasse es Ihnen, eine Antwort zu finden.“